Denkanstoß

Der Tod kam über Nacht, aber er kam nicht überraschend. Bettina Friese, von ihrer Familie nur Oma Betty gerufen, hatte vor wenigen Tagen ihren 90. Geburtstag gefeiert. „Die Neunzig mach´ ich voll“ war einer der Sätze, den man öfter von der ehemaligen Redakteurin einer namhaften Tageszeitung hörte. Bettina Friese war stolz darauf, in einer Zeit, in der es noch nicht selbstverständlich war, dass Frauen Chefpositionen einnahmen, Karriere gemacht zu haben.

 

Betty Friese hatte Familie und einen guten Job. Natürlich gab es auch Tage, an denen sie sich nicht um ihre beiden Töchter Leonie und Nora kümmern konnte, aber es gab da dieses eine Ritual, dass sie sich nicht nehmen ließ, egal wie groß der Stress in der Redaktion war. Sie brachte ihre Kinder immer ins Bett und kurz bevor das Licht gelöscht wurde, sang sie Leonie und Nora die erste Strophe des Schlafliedes Der Mond ist aufgegangen vor. Wenn Sie auf Dienstreise war, dann summte sie eben am Telefon die Melodie. Und als dann später die Enkelkinder bei Oma Betty übernachten durften, saß sie natürlich am Bett von Jonas, Lukas und Anna, deckte sie liebevoll zu, küsste sie und sang. Alle liebten dieses Ritual.

 

In den letzten Wochen hatte Bettina Friese keinen Appetit mehr und wurde immer weniger. Leonie und Nora machten sich Sorgen, aber Oma Betty beruhigte sie. „Alles zu seiner Zeit…“ war ihr Lebensmotto „… auch das Sterben“ fügte sie in einem der Gespräche hinzu und lächelte sanftmütig. Natürlich tat der Gedanke an den nahenden Abschied der Familie weh, aber da waren auch Dankbarkeit und Bewunderung. Dankbarkeit für die vielen schönen gemeinsamen Jahre und Bewunderung für den Mut und die Gelassenheit mit der Betty ihrem Schicksal entgegen ging.

 

Bettina Friese ist friedlich eingeschlafen. Als Nora sie morgens im Bett fand, zeigte ihr Gesicht keinerlei Spuren eines Todeskampfes. Stirn, Wangen und Mund wirkten entspannt, fast schien sie zufrieden zu lächeln. Ihr Gesichtsausdruck schien zu sagen, macht euch keine Sorgen, ich bin gut angekommen.

 

Bettina Friese war auf einen Bauernhof im Bergischen Land aufgewachsen. Sie hatte ihren Töchtern und Enkelkindern viel von ihrer schönen Kindheit vorgeschwärmt. Da gab es die Tiere und die Natur und es gab eine große Verwandtschaft, alle waren füreinander da.

 

Schon als kleines Kind war sie dem Tod begegnet. Als ihre Großmutter starb, wurde die Tote im Wohnzimmer aufgebahrt. Freunde und Verwandte nahmen persönlich Abschied und auch Bettina durfte ihre Oma vor dem Begräbnis noch einmal besuchen und ihr ein selbstgemaltes Bild in den Sarg legen.

 

Bettina Friese hatte mit ihren Töchtern nicht darüber gesprochen, wie sie trauern sollten. Nur eine Bitte hatte sie geäußert. Betty hatte sich gewünscht, dass ihr Leichnam bis zur Einäscherung zuhause bleiben sollte. Die Vorstellung in einer kalten Leichenhalle zu liegen, war ihr ein Graus. Diesen letzten Wunsch konnten ihre Töchter erfüllen. Leonie und Nora halfen uns dabei, der Mutter ihr Lieblingskleid anzuziehen und dann wurde Betty im Wohnzimmer ihrer Wohnung in den Sarg gebettet.

 

Nun gibt es da die Vorschrift, dass Verstorbene binnen 36 Stunden in einem für Tote vorgesehen Raum gebracht werden müssen. Leonie und Nora ignorierten diesen Teil des veralteten Bestattungsgesetzes. Die Schwestern luden drei Tage lang Freunde und Verwandte ein, um sich persönlich von der Toten zu verabschieden. Und die meisten kamen nach anfänglichem Zögern und waren am Ende froh, noch einmal einige Zeit am offenen Sarg bei Betty gesessen zu haben.

 

Leonie bat die Besucher, einen letzten Gruß auf weißes Papier zu schreiben und in den Sarg zu legen und so füllte sich der Sarg langsam mit Abschiedsbriefen und bunten Bildern, denn auch die Kinder wollten Oma Betty unbedingt noch etwas mit auf die letzte Reise geben. Die Gemeinschaft, die die Familie und die Freunde in diesen schweren Stunden miteinander erlebten, tat allen gut.

 

Die letzte Station auf dem Weg zur letzten Ruhestätte von Bettina Friese war die kleine Kapelle auf dem Friedhof. Die Familie hatte noch einmal alle Freunde und Verwandte eingeladen, es gab keine Zeremonie und keine salbungsvollen Reden, die Atmosphäre war zwanglos. Die Erwachsenen unterhielten sich leise, immer wieder trat jemand vor und legte ein paar Blumen nieder.

 

Dann versammelte sich noch einmal die ganze Familie um den Sarg - Jonas, Lukas, Anna und ihre Eltern fassten sich an den Händen und Leonie erinnerte noch einmal daran, dass Oma Betty sie und ihre Schwester und alle Enkelkinder liebevoll in den Schlaf gesungen hatte. Dann war da für einen Moment Stille, der warme Kerzenschein fiel auf ein Foto auf dem Betty mit strahlendem Lächeln zu sehen war. Erst war nur ein Summen zu hören und dann begannen alle leise zu singen:

 

Der Mond ist aufgegangen,
die goldnen Sternlein prangen
am Himmel hell und klar;
der Wald steht schwarz und schweiget,
und aus den Wiesen steiget
der weiße Nebel wunderbar. …

 

Hanna Thiele-Roth und David Roth